Liebst du mich noch?

René stand am Rand des Bühneneinganges. Das sanfte Glockenspiel im Foyer rief die Zuschauer des Theaters wieder zu ihren Plätzen. Er konnte von seiner Position aus sehen, wie die Besucher in den Saal strömten und sich mit freudiger Erwartung setzten.

Im Orchestergraben stimmten die Musiker ein letztes Mal ihre Instrumente. Heute wurde Rusalka gezeigt, ein Ballettmärchen und sein Liebster war mit dabei.

Mit zärtlichem Blick schaute René zu den Tänzern, die sich am Eingang zur Bühne für den Auftritt sammelten. Einige standen einfach still da und warteten, einige machten noch letzte Dehnübungen und sein Freund wippte locker auf und ab und ließ die Schultern kreisen. Verzückt betrachtete René das Muskelspiel. All diese Bewegungen waren ihm mit der Zeit so vertraut geworden, dass er an Michelles Körpersprache das Befinden seines Geliebten erkennen konnte. Über Renés Gesicht huschte ein Lächeln. Es dauerte etwas, bis er sich an den Mädchennamen seines Freundes gewöhnt hatte, aber dieses Kuriosum nahm er gern hin, denn wenn sein Ballettmäuschen eins war, dann ein richtig heißer Typ, mit allem was dazu gehörte. Da konnte keine Frau mithalten. Zumindest nicht bei ihm. 

Das Stimmen der Instrumente war verstummt. Erwartungsvolle Stille legte sich über alle Beteiligten. Michelle wirkte angespannt, stellte René fest. Schon seit etlichen Tagen. Er fragte sich nicht zum ersten Mal, ob ein anderer Mann dahinter steckte. Auswahl gab es hier reichlich, aber das würde zu seinem Freund nicht passen. Dennoch hatte er ihn vorgestern gefragt. Michelle war ihm ausgewichen, versicherte aber, dass es für ihn keinen anderen gab. Er versuchte Renés Bedenken mit einem Kuss zu zerstreuen, doch der war auch nur halbherzig gewesen.

Die Musik setzte ein und die Tänzer schritten graziös auf die Bühne.

Einen Moment lang schaute René ihnen von der Seite zu, dann verließ er den hinteren Bühnenbereich, um seine Runde zu drehen. Er war für die Sicherheit im Theater verantwortlich und nahm seinen Job ernst.

 

Unruhe im Foyer und Applaus kündigte das Ende der Vorstellung an.

René verließ den Garderobenraum der Tänzer, wo er auf Michelles Platz, wie immer, eine weiße Nelke hinterlassen hatte. Die weiße Nelke war von Beginn an das Symbol ihrer Liebe.

Er würde seinen Freund nachher abholen und mit ihm gemeinsam zu sich nach Haus fahren. Sie hatten beide am nächsten Tag frei. Es wäre so schön, am Morgen neben seinem grazilen und verdammt gelenkigen Tanzmäuschen aufzuwachen. Vielleicht erfuhr er heute von ihm, was los war. Die Ungewissheit nagte böse an ihm. Was, wenn Michelle doch Schluss machen will? So kurz vor Weihnachten? Das täte echt weh.

Ein letztes Mal durchquerte René das Theater, schaute nach Türen und Fenstern, schaltete die einzelnen Sicherheitsanlagen ein und begab sich dann zur Ballettgarderobe. Dort fand er Michelle vor seinem Schminkspiegel sitzen, die Nelke verträumt zwischen Daumen und Zeigefinger langsam hin und her drehend. Als René eintrat schaute sich Michelle zu ihm um. In seinem Gesicht lag ein Leuchten, wie es René nur sah, wenn sie Sex hatten. Der Gedanke war wie ein Stich ins Herz. Hatte Michelle gerade Sex gehabt?

„Ist etwas nicht in Ordnung?“, hörte er Michelle fragen. Sein Freund war abrupt aufgestanden und trat zu ihm. Seine Hände legten sich auf seine Brust. „Du siehst so blass aus.“

„Liebst du mich noch oder hast du einen anderen?“, fragte René nun rund heraus. Seine Stimme krächzte vor Anspannung.

„Was? Wie kommst du darauf, mein starker Held? Wer sollte dir denn das Wasser reichen können?“

„Du bist in letzter Zeit so ausweichend und in Gedanken gewesen“, versuchte René zu erklären.

Michelle wollte etwas sagen, er öffnete schon den Mund, dann schwieg er. Es war zu sehen, wie er nachdachte. Seine Stirn zog sich kraus, dann schaute er René mit dem liebevollsten Blick an, den einem Mann geschenkt werden konnte.

„Ach, mein Held, ich wollte es dir erst heute Nacht sagen, aber bevor du auf noch düstere Gedanken kommst, verrate ich es dir gleich. Du weißt, dass wir seit Wochen für das Weihnachtsballett Der Nussknacker proben. Bis heute stand noch nicht fest, wer den Hauptpart tanzen darf. Das ist ein ganz großes Ding und ich stand in der engeren Auswahl. Das hat mich die ganze Zeit beschäftigt. Doch ich wollte dir nichts sagen, bevor es nicht verbindlich ist.“

„Und?“

„Ich werde ihn tanzen.“ Michelle sprang vor Freude auf und ab und drehte sich bis René ihn einfangen und fest an sich drücken konnte.

„Ich gratuliere meinem Tanzmäuschen und verzeihe dir, dass du mich im Unklaren gelassen hast.“

„Und ich verzeihe dir, dass du so etwas abscheuliches denken konntest.“ Michelle legte seine Arme um Renés Hals und verlangte einen Kuss, den ihm sein Freund gern gab.

„Gehen wir zu mir und feiern deinen Erfolg, mein kleines Tanzmäuschen.“

„Was immer du möchtest, mein tapferer Held.“

Versöhnt und glücklich schlenderten die beiden Arm in Arm die nächtlichen Straßen entlang und bewunderten die Weihnachtsbeleuchtung in den Fenstern. Der 2. Advent war inzwischen angebrochen.

 

Ende